Sprachdarwinismus

Sprachdarwinismus nenne ich die These der Sprachideologen, dass genau wie in der Biologie das Prinzip von Mutation und Selektion zur Verbesserung der Sprache und ihrer Anpassung an neue Bedingungen beiträgt und für die sprachliche Evolution unverzichtbar ist. In Regelbrüchen bei Grammatik, Wortwahl und Rechtschreibung sehen die Sprachideologen nichts grundsätzlich Fehlerhaftes und Falsches, sondern Mutationen, die je nachdem, ob sie die sprachliche Verständigung erleichtern oder erschweren, von Sprechern kopiert werden oder auch nicht, und somit einer natürlichen Selektion unterworfen sind.

Was die Sprachideologen übersehen: Es gibt nicht nur einzelsprachliche Regelwerke, sondern auch ein übersprachliches Regelwerk. (Wichtiger Hinweis: Damit meine ich keinesfalls eine „Universalgrammatik“ im Chomskyschen Sinne!) Dieses Regelwerk sorgt dafür, dass sich die einzelsprachlichen Regelwerke nicht gegenseitig widersprechen: Es gibt keine Wörter oder Wortfolgen in èiner Sprache, die in einer anderen Sprache etwas völlig anderes bedeuten. Gäbe es diese, würde es ständig zu Missverständnissen zwischen Sprachgemeinschaften kommen.

Ändert man Regeln einer bestimmten Sprache ohne Berücksichtigung der anderen Sprachen nach Belieben, muss es zwangsläufig über kurz der lang per Zufall dazu kommen, dass Lautfolgen entstehen, die in irgendeiner anderen Sprache etwas völlig anderes bedeuten. Internationale Kapitalisten haben das längst gemerkt und lassen deshalb neu „designte“ Produktnamen von Sprachexperten daraufhin abklopfen, ob sie in irgendeiner Sprache eine Bedeutung haben, die dem Markterfolg des Produktes in den entsprechenden Ländern im Wege steht. Die internationalen Kapitalisten haben also vom Wesen der Sprachen bereits mehr verstanden als all die Sprachwissenschaftler mit Abschluss, die der Meinung sind, dass die sprachliche Evolution dann am besten funktioniert, wenn am wenigsten darüber nachdenkt.

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Eine Gemeinsamkeit der Sprachideologen mit Biologen ist der darwinistische Glaube an Evolution durch Mutation und Selektion. Eine Mutation in der Biologie ist zunächst einmal nur eine Panne in der Vererbung – das wird auch kein Darwinist bestreiten. Als Mutation in der Sprache oder Rechtschreibung gelten dementsprechend Lernpannen (wie z.B. wenn Deutschsprachige das [v] in englischen Wörtern als [w] aussprechen) oder systematische Übertragungspannen (z.B. das Weglassen von diakritischen Zeichen). Genau wie die Biologen glauben auch die Sprachdarwinisten, dass solche Pannen notwendig sind, um die Evolution durch anschließende Selektion voranzutreiben. Dabei gehen sie davon aus, dass nicht alle Pannen negative, sondern manche auch positive Effekte für das Ziel der Anpassung an eine sich fortwährend verändernde Umwelt haben. Angeblich setzen sich Pannen mit positiven Effekten durch, während die negativen schnell aussterben. Als richtig gilt deshalb im Umkehrschluss alles, was sich im Sprachgebrauch durchsetzt, auch wenn es nach sämtlichen bestehenden sprachlichen Regeln widersinnig ist. Aus dieser Logik folgt aber auch, dass erst alte Regeln gebrochen werden müssen, damit neue entstehen können.

Ich sage es nochmal, weil es schier unglaublich klingt: Die Sprachideologen sind als Darwinisten ernsthaft der Meinung, dass sprachliche Lern- und Übertragungsfehler zwingend notwendig sind, um den natürlichen Sprachwandel voranzutreiben. Sie feiern deshalb jeden um sich greifenden Regelbruch als sprachliche Erneuerung! Dieser Glaube an die positive Kraft von Fehlern ist geradezu rührend naiv, doch hat er mit der Realität und der natürlichen Sprachentwicklung nichts zu tun. Es ist keineswegs so, dass Fehler nur dann nachgemacht werden, wenn sie sich als positive Veränderung erweisen. In Wahrheit orientieren sich die Menschen beim Sprechen und Schreiben hauptsächlich an Autoritäten. Ob ein Lernfehler nachgemacht wird, hängt weniger mit seinem Effekt zusammen, sondern eher damit, wer ihn vorgemacht hat. Zwar kann auch die Mehrheit als Autorität gelten, meistens sind es aber Institutionen oder angesehene Persönlichkeiten. Das Problem mit der Mehrheit ist nämlich, dass sie ohne großen Statistikaufwand nicht feststellbar ist.

Die Sprachideologen haben keine Hemmungen, mit Kampagnen wie der zum generischen Femininum Grundregeln der deutschen Grammatik wissentlich und willentlich zu verletzen, weil sie aufgrund ihrer darwinistischen Sprachevolutionstheorie davon überzeugt sind, dass Regelverletzungen für den sprachlichen Fortschritt sowieso unvermeidlich sind. Allerdings vergessen sie dabei (oder tun so), dass nach der reinen Lehre nur solche Regelbrüche unterstützenswert sind, die einen unmittelbaren kommunikativen Nutzen nach sich ziehen. Das eigenmächtig und unangekündigt verwendete generische Femininum dagegen hat keinen kommunikativen Nutzen, sondern erschwert sogar die Kommunikation.

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Zufällige Sprachevolution führt über kurz oder lang zu Kollisionen zwischen sprachlichen Formen.

Konkurrenz von Wortbedeutungen kommt in der natürlichen Sprache nicht vor. Zwar verkümmern auch in der natürlichen Sprache Wörter und Formen, aber nicht aufgrund von Bedeutungskonkurrenz. Der Bedeutungswandel verläuft in der natürlichen Sprachumgebung vollkommen friedfertig und kooperativ, ohne Wettbewerb, Konkurrenz, Unterdrückung und ähnliche unschöne darwinistische Methoden. Diese Erkenntnis kann man aber den Sprachdarwinisten (sprich heutigen Sprachwissenschaftlern) nicht vermitteln, da sie unfähig sind, außerhalb der Bahnen ihrer Ideologie zu denken.